Homeoffice ist „in“ und Kontaktbeschränkungen zwischenzeitlich „normal“. Was wir bereits vor Monaten, als große Versicherer quasi über Nacht ins Homeoffice geschickt haben, vorhergesagt haben, ist nun da: Die ersten „Global Player“ denken über ihre „Prime Immobilien“ im Herzen der Stadt nach. Dort wo hunderte Mitarbeiter jahrein jahraus übereinander gestapelt in so genannten Hochhäusern ihr Geld verdient haben, aber dennoch sehr anonym in Einzelbüros saßen.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Möglichkeit, sich kurzfristig mit Kollegen abstimmen zu können, sind einer der Kerngründe dafür, warum Unternehmen bis heute Ressourcen an einem zentralen Ort bündeln wollen.
Selbst unser insgesamt föderalistisches Deutschland denkt auf Unternehmensebene zentralistisch. Das ist ein bisschen so, wie Frankreich organisiert ist: Wer mit der Bahn zwischen den beiden südfranzösischen Städten Toulouse und Marseille hin und herfahren will, der hat gar kein Problem. Er muss nur akzeptieren, dass der TGV (französisches ICE Pendant) über Paris fährt…
Millionen Tonnen CO2 und Milliarden Liter Benzin (von Unfallschäden und Parkplatzgebühren ganz zu schweigen) haben die Bundesdeutschen ausgegeben, um mit ihren Kollegen wichtige Lebenszeit im Stau zu verbringen.
Und nun? Nun drohen die teuersten Quadratmeter in den Innenstadtlagen zu leeren Türmen zu verwaisen. Eine leise Hoffnung ist selbst Monate nach dem weltweiten Ausbruch von Corona noch da… aber wird es jemals wieder so sein wie früher?
Die ersten Unternehmen stellen selbstkritisch fest: „Unsere Mitarbeiter haben uns während des Lockdowns die Stange gehalten. Sie haben für das Unternehmen gekämpft und nicht nur ihre eigene Hard- und Software zur Verfügung gestellt, sondern auch ihre Internetleitungen, ihre privaten Handies und haben sich bereiterklärt, zu unmöglichen Zeiten Videokonferenzen mit den Kollegen zu führen, um wichtige Entscheidungen treffen zu können.“
Eine richtige Feststellung, die zeigt, wie viele Mitarbeiter doch extrem loyal gegenüber ihren Arbeitgebern sind. Und sie zeigt auch, dass das Vorurteil, dass Mitarbeiter nur arbeiten, wenn sie unter laufender Kontrolle des Vorgesetzten stehen, antiquiert ist. Als Menschen in brütender Hitze Steinquader schleppen mussten, um Pyramiden zu bauen, da war das so… jetzt aber (und auch das ist Veränderung) ist aus den ersten Unternehmen folgende Frage zu vernehmen: „Können wir von Mitarbeitern, die das Unternehmen in Krisenzeiten am Leben gehalten haben, überhaupt noch verlangen, nach Corona wieder die Stechuhr zu bedienen?“
Doch dies ist nur der Blick auf den Innendienst. Wie schaut es erst im Vertrieb aus?
Hier gibt es derer ja doch mehrere Veränderungen. Die Kontaktbeschränkungen führen dazu, dass viele Vertriebler gar nicht mehr zum Kunden kommen. Entweder weil Grenzen geschlossen sind oder weil nach Grenzübertritt jedes Mal Quarantänevorschriften greifen.
Große Vertriebsevents sind ebenfalls nicht möglich und so konzentriert sich der Vertrieb auf „One on Ones“: Ein Vertriebler trifft einen Kunden. Egal ob B2B oder B2C. Zumindest in der Finanzdienstleistungsbranche greifen oft die Dokumentationspflichten. Heisst: Neben dem Reiseaufwand, der eigentlichen Meetingdauer und der Vorbereitungszeit kommt noch der Dokumentationsaufwand hinzu. Dokumentation muss auch umgehend erfolgen, sodass der Vertriebler genau genommen nach dem Kundenmeeting vor dessen Haus im Auto sitzen bleibt und erst einmal sauber dokumentiert.
Klingt praxisfremd und ist es auch. Schlimmer noch: Lange vor Corona war diese Praxis schon veraltet. Und zwar nicht wegen der Dokumentationspflichten, sondern weil der Kunde in aller Regel viel digitaler denkt und handelt, als es Unternehmen bis heute tun.
Ich erinnere mich gut an eine Kundenveranstaltung im gehobenen Private Banking Kontext zurück. Steve Jobs hatte wenige Wochen zuvor die erste Generation des iPads vorgestellt und plötzlich war eine zuvor totgeglaubte Hardwaregattung richtig en vogue.
Rund zehn Jahre ist dieses Kundenevent nun her und schon auf diesem Kundenevent stand ich mit mehreren Senioren an einem Tisch, die von mir wissen wollten, wo sie denn die spezielle Private Banking App der Bank finden könnten, um ihre Finanzen stets im Blick zu haben.
Mein Unternehmen bastelte zu dieser Zeit ganz stolz an einer ersten Smartphone App und war in der Bankenwelt in der Tat ein Innovationsführer. Doch die App gab es nur für ein Betriebssystem, war stark abgespeckt und nicht tablettoptimiert. Ich stand also mit leeren Händen da.
Doch viel wichtiger: Schon damals musste ich realisieren, dass der Kunde innovativer ist als seine Bank. Und das verwunderte mich nicht. Oft schon hatte ich das in Projekten erlebt: Unternehmen bezeichnen sich als innovativ, wenn sie nur (endlich) das liefern, was der Markt schon längst fordert…
Als ich kurz darauf den Versuch wagte, Youtube als Plattform für Lernvideos und Kundeninformationen einzusetzen, wurde ich herbe eingebremst: „Das sieht der Regulator nicht vor! Und außerdem handelt es sich hier um nicht etablierte Systeme mit einer zweifelhaften Sicherheitspolitik. Wir dürfen unser spezielles Bank-Know-How nicht kostenlos ins Netz stellen.“
Kurz darauf gelang es mir, mit Hilfe der Webinartechnologie regelmäßige, kurze Kundenevents durchzuführen, die immer nur ein Thema behandelten. Die Kunden waren anfangs zurückhaltend, aber dann schnell begeistert. Kundendialog ohne reiseaufwand, Fachinformationen exklusiv für Bestandskunden. Das war für Vertrieb und Kunde interessant und bot zugleich Skaleneffekte.
Obwohl die Webinare besser besucht wurden als die physischen Kundenevents wurde dieser „neumodische Kram“ schnell wieder abgeschafft. Private Banking sei People-Business: „Kunde und Vertrieb müssten sich in die Augen schauen.“ Der Vertrieb verdient ja klassischerweise das Geld – also durfte er entscheiden.
Kurz überlegt wurde noch, als der verheerende Tsunami vor Japan wütete und die Auswirkungen auf die Börse unbekannt waren. An diesen Tagen war die Webinartechnologie ein hervorragend geeignetes Mittel, um einer Vielzahl an Kunden eine grobe Ersteinschätzung der Bankanalysten zu den Auswirkungen des Tsunamis auf die Weltbörsen zu geben.
Die Digitalisierung von Wertpapierempfehlungen und der digitale Live-Zugang auf selbige beim Kunden zuhause war 2011 eine echte Innovation. Doch das Problem lag nicht in der IT oder beim Kunden oder gar beim Regulator. Nein, wenn man ehrlich ist, lag es im Vertrieb.
Der Vertrieb war es, der gebetsmühlenartig gepredigt hat, dass Vertrieb nicht anders geht, als mit Kunden zuhause in Farbe ausgedruckte Präsentationen anzuschauen. Ein Laptop auf dem Tisch sei eine Barriere.
Wir sind es gewohnt, etablierte Prozesse zu schützen. Das tun wir Menschen in allen Bereichen. Doch weil sich viele Vertriebler jahrelang gegen eine Modernisierung des Vertriebs gewehrt haben, müssen jetzt neue Vertriebsspezies eingestellt werden. Denn der neue Vertrieb ist hybrid. Er mixt Digitalität mit persönlichem Kontakt und erreicht den Kunden zuhause auf der Couch. Auch abends, morgens vor der Arbeit oder am Wochenende.
Noch sprechen wir davon, dass „Customer Journey“ ein rein digitales Konzept sei. Aber schon bald werden wir hybride Customer Journeys entwickeln. Wege der Kundenbeziehung, die zahlreiche X-Chromosome beinhalten und jederzeit eine. Switch zwischen digital und offline ermöglichen, ohne dass irgendwelche Daten verloren gehen.
Natürlich wird es immer Ausnahmen geben. Und das ist auch gut so. Denn getreu Pareto bestätigen die 20% Ausnahme (sofern es überhaupt so viele Ausnahmen gibt), dass 80% der Zukunft des Kundendialogs hybrid sein wird. Kernkompetenzen sollten sich deswegen auf hybride Ansätze konzentrieren und den Vertrieb schulen, noch besser mit den digitalen Medien umzugehen. Denn der Kunde will schon heute nicht mehr darauf verzichten!